„It seems to me something of a scandal that it is even necessary to debate these issues two centuries after Voltaire defended the right of free expression for views he detested. It is a poor service to the memory of the victims of the holocaust to adopt a central doctrine of their murderers.” – Noam Chomsky

 

Es ist nicht ungewöhnlich, dass mit bestimmten Vorstellungen eine politische Voreingenommenheit verbunden ist. Die Einwanderungsdebatte zum Beispiel hat lange Zeit eine Links-Rechts-Struktur angenommen, was auch ganz natürlich ist. In der Regel können Sie anhand der Positionen, die jemand zu bestimmten Themen einnimmt, eine fundierte Einschätzung der politischen Tendenzen eines Menschen abgeben.

Aber heute scheinen viele zu glauben, dass dies auch auf eine der grundlegendsten Säulen freiheitlich-demokratischer Gesellschaften zutrifft, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder, falls man es weiter fasst, die Redefreiheit. Die Freiheit, sich auszudrücken wie man möchte, ist nicht nur zu einem irgendwie umstrittenen Thema geworden. Sondern manche sehen es jetzt als Beweis dafür, dass man irgendwie ein Rechter ist, wenn man die Redefreiheit und damit verbundene körperliche Unversehrtheit für alle verteidigt, die eine Meinung innerhalb rechtlich erlaubter Spektren einnehmen und diese offensiv äußern.

Diese Wahrnehmung ist sowohl falsch als auch problematisch. Warum ist die Meinungsfreiheit dann plötzlich zu einer angeblichen Facette der Rechten geworden?

Ein großer Teil dieser Sichtweise scheint mir von der Angst vor „beleidigender“ oder „verletzender“ Sprache geschürt zu sein. Während viele auf der linken Seite versuchen, alles, was verletzte Gefühle oder die Beschädigung angeblich menschenfreundlicher Weltsichten hervorrufen könnte, von den sozialen Plattformen und aus der Öffentlichkeit zu entfernen, haben einige auf der rechten Seite damit begonnen, sich wie die Avantgarde der freien Meinungsäußerung zu verhalten. Keine dieser Positionen bringt viel Gutes für die Meinungsfreiheit. Denn beide Seite betrachten Meinungsfreiheit als ein Instrument und nicht als ein fundamentales Grundrecht in der westlichen Kultur.

Interessanterweise erscheint diese seltsame Ansicht, dass nur Rechte die Meinungsfreiheit verteidigen können, eher neu. Noch im Jahr 2015 wurde „Je Suis Charlie“ eine massive Bewegung zur Verteidigung der Redefreiheit des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo, dessen Büros angegriffen und dessen Mitarbeiter umgebracht wurden, nachdem ein Bild des muslimischen Propheten Mohammed gedruckt worden war.

Die Bewegung „Je Suis Charlie“ war im Gegensatz zu den heutigen Protesten für Redefreiheit nicht politisch ausgerichtet. Es war kein ideologischer Kampf, sondern ein gemeinsamer Protest zum Schutz eines Grundrechts.

Würde der Terrorakt und der folgende Protest heute stattfinden, würde die Bewegung wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. #JeSuisCharlie wäre kein Ruf nach freier Meinungsäußerung, sondern würde wahrscheinlich als Kampagne der neuen Rechten angesehen. Die Linke würde Charlie Hebdo wohl entschiedener für seine anstößigen Inhalte kritisieren, als ihr Recht zu verteidigen, beißende Religionskritik zu üben.

Wie der berühmte Atheist und politische Aktivist Charles Bradlaugh aus dem 19. Jahrhundert sagte, ist die Redefreiheit eng mit der menschlichen Suche nach der Wahrheit verbunden.

„Ohne freie Meinungsäußerung ist keine Suche nach der Wahrheit möglich. Ohne Redefreiheit ist die Entdeckung der Wahrheit unnütz. Ohne Redefreiheit wird der Fortschritt kontrolliert, und die Nationen marschieren nicht länger auf das edlere Leben zu, das die Zukunft für den Menschen bereithält.“, sagte Bradlaugh 1880 in einer berühmten Rede in der Hall of Science. „Besser ein tausendfacher Missbrauch der Redefreiheit als eine Verweigerung der Redefreiheit. Der Missbrauch stirbt an einem Tag. Die Verweigerung tötet das Leben der Menschen und begräbt die Hoffnung der Rasse.“

Es ist an der Zeit, dass die Redefreiheit von der rechten Etikettierung befreit wird. Die Linke, die Mitte und die Rechte müssen sich auf freie Meinungsäußerung als gemeinsame Grundlage unseres Zusammenlebens einigen. Ohne wenn und aber. Leider ist dies nicht so, und in der politischen Diskussion in Deutschland überwiegt die Meinung, dass mehr Redefreiheit mehr Risiken als Chancen birgt. Letztendlich übrigens auch im rechten politischen Spektrum.

Der Fall des Internetforums 8chan jetzt 8kun scheint die Grundlage für die stärkste mögliche Begründung zu sein, dass einige Äußerungen einfach nicht im Internet erscheinen dürfen. Als der Attentäter des Terroranschlags von El Paso dort sein Manifest veröffentlichte, trat er in die Fußstapfen des Attentäters von Christchurch und des Attentäters auf die Synagoge Tree-of-Life in Pittsburgh. 8chan wurde speziell gegründet, um Äußerungen Raum zu geben, die zu extrem waren, um in anderen Foren, einschließlich 4chan, zu erscheinen. Bis 8chan war 4chan wohl das äußerste Ende des Möglichen. Seit seiner Gründung ist 8chan die Heimat von Inhalten, die in einer Reihe von Dimensionen extremistisch sind: Rassismus, Sexismus, Homophobie, paranoide Verschwörungstheorien und dergleichen.

Ich will gar nicht versuchen zu argumentieren, dass das Zulassen extremistischer Inhalte in einer Art Automatismus dazu führt, dass der Extremismus nachlässt. Oft kann das Äußern extremistischer Ansichten zu mehr Extremismus führen. 8chan und andere Plattformen sind dafür ein Beispiel. Es ist jedoch andererseits so, dass wir heute nicht mehr über Flugblätter kommunizieren, die von einem einsamen Aktivisten im dunklen Keller gedruckt wurden. Das Internet ist weltweit zu unserem Hauptforum für schriftliche Kommunikation geworden.

Daraus folgt, dass wenn es im Internet keinen Ort gibt, an dem bestimmte Ideen zum Ausdruck gebracht werden können, diese Ideen – und ich beziehe mich jetzt explizit auf die schlechten und extremistischen – überhaupt nicht schriftlich zum Ausdruck gebracht werden. Dies würde wiederum zu einer Einschränkung der Ideen führen, die allen Menschen zugänglich sind. Die Kernidee von Meinungsfreiheit und Redefreiheit war immer, dass wir die Äußerung bestimmter Ideen zulassen, die wir verurteilen und für moralisch falsch und sogar gefährlich halten, weil ihre Äußerung letztendlich die Suche nach der Wahrheit und nach dem Guten beflügelt. Schlechte Ideen zu widerlegen ist Teil der Gestaltung neuer Ideen, wie der Philosoph John Stuart Mill argumentierte. Und vielleicht ist es für alle und gerade die selbsternannten Guten unter uns gar nicht so schlecht, wenn unsere tiefsten moralischen Gewissheiten in Frage gestellt und immer wieder herausgefordert werden. Das mag besonders schwer sein, wenn wir mit dem offensichtlich Menschenfeindlichen und Bösen konfrontiert sind.  Doch gerade in solchen Zeiten muss der Schutz der freien Meinungsäußerung Priorität haben.